Greetings from… Max-Planck-Institut in Göttingen
von Claudius Ströhle
This blog was originally published on November 14, 2022 in the Junge Forschung Blog, Universität Innsbruck..
[14.11.2022] „If you approach this from a theoretical perspective“ höre ich aus dem Stimmenwirrwarr heraus. Etwas weiter sehe ich eine Gruppe junger Menschen mit Bierdosen in den Händen am Ufer sitzend und diskutierend. Auf der anderen Straßenseite sitzt ein Mann auf dem Fahrrad und hält einen Kodex in der Hand. Es ist der 1. September, mein erster Tag in Göttingen.
Irgendwie hat in dieser Stadt alles mit Wissenschaft zu tun, denke ich mir. Und tatsächlich: Göttingen inszeniert sich als „Stadt, die Wissen schafft“: 44 Nobelpreisträger:innen haben Göttingen-Bezug, 1948 wurde hier die Max-Planck-Gesellschaft gegründet, von deren mittlerweile 86 unterschiedlichen Instituten vier ihren Sitz in Göttingen haben. Auch das Deutsche Primatenzentrum ist hier untergebracht, genauso wie das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Und natürlich noch die Universität, an welcher knapp 45.000 Personen arbeiten oder studieren. Ganz schön viel Wissenschaft also.
Im Zuge meiner Dissertation über Remittances (Rücküberweisungen) im Kontext der Arbeitsmigration zwischen Österreich und der Türkei verbringe ich einen viermonatigen Gastforschungsaufenthalt am Max-Planck-Institut zur Erforschung mulireligiöser und multiethnischer Gesellschaften (kurz: mpi mmg) in Göttingen. Bereits die leicht, aber doch abgewandelte englische Bezeichnung des Instituts – For the Study of Religious and Ethnic Diversity – gibt mir zu verstehen: wenn wir über Gesellschaften forschen, dann forschen wir auch immer über Diversität. Um die fortschreitende Diversifizierung immer weiterer Lebensbereiche in den Blick zu nehmen, ist das Konzept der Superdiversity hilfreich; dies hat der Direktor und Gründungsvater des Instituts, Steven Vertovec, vor gut 15 Jahren eingeführt. Er meint damit (unter anderem), dass gegenwärtige Gesellschaften hochgradig diversifiziert und differenziert sind, und die gängigen Kategorisierungen anhand von Ethnie, aber auch Geschlecht oder Klasse nicht mehr ausreichen, um Vielfalt zu verstehen. Hier am Institut forschen Sozialwissenschafter:innen aus unterschiedlichen disziplinären und geografischen Blickwinkeln über die Herstellung, Wahrnehmung und Funktion von Diversität. Das Projekt DivA untersucht beispielsweise anhand einer großangelegten repräsentativen Umfrage, was in Deutschland unter Diversität verstanden wird und wie sich die Menschen dazu positionieren. In einem transnationalen Zuschnitt forschen die Mitglieder des Encounters-Projektes über jüdisch-muslimische Begegnungen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland – und zeigen dabei unter anderem auf, wie die Geschichte des Holocaust und Kolonialismus im gegenwärtigen Europa nach- und fortwirken. Oder, um einen dritten gegenwärtigen Fokus zu nennen, steht im ZOMiDi-Projekt die Frage im Zentrum, wie zivilgesellschaftliche Organisationen auf Diversität reagieren, wer dort eigentlich wen repräsentiert und vertritt, und wie stark sich dies gegenwärtig verändert. Das Groß der Forschungen beschäftigt sich nach meinen ersten Eindrücken mit Prozessen der Migration, und wie diese Gesellschaft transformieren. Dabei wird jedoch – und dies erscheint mir zentral – nicht nur die Diversifizierung der Gesellschaft in den Blick genommen, sondern auch die Diversifizierung der Migration.
Am besten lässt es sich über Wissenschaftliches und Alltägliches im Garten des Instituts diskutieren. Und dann gibt es da noch die Terrasse, auf welcher sich gegen 13 Uhr zumeist sonnensuchende Menschen einfinden, um ihre selbstmitgebrachten Mittagsjausen einzunehmen. Die vielen Aufenthaltsräume, Küchen, Konferenzzimmer und Bibliotheken, die sich über drei Gebäude verteilen, schaffen Räume für Begegnungen und Austausch. Doch, die Covid-19 und die damit einhergehende Verlagerung von Arbeit in die eigenen vier Wände haben dazu geführt, dass viele der am Institut wirkenden Personen nur unregelmäßig vor Ort sind; derzeit wird austariert, wie eine Rückkehr zu zumindest zweitweiser Anwesenheitspflicht funktionieren könnte: eine Frage, die viele Wissenschaftsbetriebe derzeit beschäftigt. Die zweiwöchentlichen Meetings und größere, öffentliche Veranstaltungen finden meistens in der Bibliothek und hybrid statt – dank einer aus universitärer Sicht durchaus beachtlichen technischen Ausstattung und stringent eingehaltener Regeln funktioniert das ausgezeichnet. Darüber hinaus gibt es stärker präsenzfokussierte Formate wie ein WriteLab oder eine Forschungswerkstatt, die kollaboratives Arbeiten an Texten und empirischem Material ermöglichen; oder auch digitale Formate wie Inputs über Schreiben und Einreichen von Forschungsanträgen.
Nach lediglich sechs Wochen Aufenthalt ist es für ein Fazit noch zu früh. Die Einblicke in den großen Apparat der Max-Planck-Gesellschaft sind jedenfalls imposant, das Wohnen im Guesthouse fördert dabei interdisziplinäre Treffen, vor allem in der Gemeinschaftsküche. Und da kommt es mir schon immer wieder mal so vor, als ob ich Empirischer Kulturwissenschafter doch weitaus kleinere Brötchen backe als meine Zimmernachbar:innen aus der medizinischen, mathematischen oder quantenphysikalischen Forschung. Kochen tun wir in der Küche zumindest alle nur mit Wasser. Und den Großteil der Zeit verbringe ich ja doch in vertrauteren Gewässern am sozialwissenschaftlich ausgerichteten mpi mmg. Und wenn‘s dann auch mal sein muss, geht es am Abend in einer der vielen Göttinger Kneipen auf ein lokal gebrautes Bier. Es trinkt sich unter dem Label – ihr werdet es schon ahnen – Scholarbier.