Wie städtische Akteure in Deutschland und Frankreich gesellschaftliche Vielfalt wahrnehmen und gestalten
Forschungsbericht (importiert) 2015 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften
Auf der ganzen Welt werden Städte immer vielfältiger. Das CityDiv-Projekt untersucht lokale Reaktionen auf die Diversifizierung der städtischen Bevölkerung in Deutschland und Frankreich. Es erforscht Maβnahmen, die aktiv die Stadtbevölkerung und die Lebenschancen und Teilhabe verschiedener Gruppen beeinflussen. Zwei Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Wie nehmen zentrale städtische Akteure Vielfalt wahr und wie greifen sie in ihre Gestaltung ein? Wie werden Anliegen von unterschiedlichen Gruppen in Netzwerken städtischer Akteure artikuliert und einbezogen?
Städte und städtische Bevölkerungen sind heute überall in der Welt von einer zunehmenden Vielfalt gekennzeichnet. Dies liegt zum Teil an globalen Migrationsbewegungen, wie sie Deutschland in den letzten Jahren vor allem als Folge des Krieges in Syrien und anderer Konflikte erlebt. Diversifizierung ist aber auch das Ergebnis von Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft, wie etwa der Ausdifferenzierung von Lebensstilen und der Formen von Partnerschaft und Familie.
Städten wird häufig eine besondere Rolle im Umgang mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen zugeschrieben. Hier, so hört man immer wieder, wird über die soziale Eingliederung von Einwanderern entschieden. Städte spielen aber auch eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, behinderten Personen den Zugang zu Gebäuden und Dienstleistungen zu ermöglichen. Wie genau Städte beziehungsweise städtische Akteure auf die vielfältigen Prozesse der Diversifizierung reagieren, ist aber noch unzureichend erforscht. Um diese Forschungslücken zu schließen, untersucht das „CityDiv“-Projekt am Göttinger Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften anhand der jeweils zwanzig größten Städte in Deutschland und Frankreich, wie zentrale städtische Akteure Vielfalt wahrnehmen und aktiv in ihre Gestaltung eingreifen. Im Mittelpunkt stehen nicht nur ausdrückliche Diversity-Konzepte, sondern auch die Frage, wie etwa in die räumliche Struktur der Bevölkerungsvielfalt eingegriffen wird und wie unterschiedliche Gruppen und Anliegen in Netzwerken städtischer Politik vertreten sind. Das Projekt identifiziert also Interventionen, die vielleicht nicht offiziell unter dem Begriff „Diversität“ firmieren, aber aktiven Einfluss auf die Struktur der Stadtbevölkerung und die Lebenschancen und Teilhabe verschiedener Gruppen nehmen.
Deutschland und Frankreich: Eine vergleichende Studie
Zu den Forschungsinteressen des CityDiv-Projekts gehört es, das Verhältnis von städtischer Besonderheit und überregional wirkenden Faktoren genauer zu klären: Inwiefern ähneln sich und wie unterscheiden sich Reaktionen unterschiedlicher Städte auf die Diversifizierung ihrer Bevölkerung?
Haben Städte eigene Profile, die ihrer spezifischen Situation in Bezug auf Demografie, Wirtschaft, politische Konstellation und Zivilgesellschaft Rechnung tragen? Setzen Städte mit einem größeren Anteil von Zuwanderern mehr Maßnahmen um, die die unterschiedliche Zusammensetzung ihrer Bevölkerung in Rechnung stellen? Haben Städte, in denen zum Beispiel religiöse Akteure sich an Governance-Netzwerken beteiligen, eine positivere Einstellung gegenüber dem Bau neuer religiöser Stätten?
Oder gibt es nationale oder sogar supranationale Muster? Ist also der Umgang mit Diversität in den deutschen und den französischen Städten ähnlich? Und ist es für eine Organisation, einen gesellschaftlichen Akteur prägend, dass er in Köln, Frankfurt, Wuppertal oder in einer beliebigen anderen Stadt wirkt oder dass er eine Unternehmer- oder Beschäftigten- oder Migrantenorganisation ist?
„Stadt“ als Ensemble unterschiedlicher Akteure
Des Weiteren geht das Projekt der Annahme nach, dass Politik auch in Städten heutzutage zunehmend in Netzwerkstrukturen gemacht wird, ein Aspekt, den die wissenschaftliche Literatur als „Governance“ bezeichnet. Das Forschungsprojekt untersucht, wie Vielfalt in den Netzwerken städtischer Akteure verhandelt wird und wer die Anliegen von unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung artikuliert. Werden Akteure wie etwa Migrantenorganisationen, LGBT-Vertreter (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender), Seniorenverbände und Organisationen religiöser Minderheiten einbezogen? Welche Dimensionen sozialer Verschiedenheit sind repräsentiert? Und in welchen Foren werden Forderungen zu Diversität zur Sprache gebracht? Nehmen beispielsweise Migrantenorganisationen und Interessenvertretungen von Behinderten an Erörterungen der Wohnungspolitik teil? Sind Vertreter religiöser Organisationen an der Stadtplanung beteiligt?
Eine Besonderheit des CityDiv-Projekts ist die Auffassung von Stadt als Ensemble „komplexer Akteure“. Neben Bürgermeistern, Stadtverwaltungen und anderen politischen Akteuren wird also ein breiteres Spektrum relevanter Organisationen und Interessenvertreter einbezogen.
Ein weiteres Merkmal des CityDiv-Projekts ist, dass es mit einem offenen Begriff von Vielfalt arbeitet. Gemeint sind nicht allein migrationsbedingte Transformationen, sondern gesellschaftliche Heterogenität im weiteren Sinne. Gefragt wird, ob und wie lokale Akteure diese Phänomene wahrnehmen und interpretieren, welche Konsequenzen sie daraus für politisches Handeln in der Stadt ziehen.
Die Vorgehensweise
Ein Team aus sechs Forscherinnen und Forschern verschiedener Disziplinen (Politikwissenschaft, Soziologie und Ethnologie) führt das CityDiv-Projekt durch. Es hat unterschiedliche Komponenten: Eine quantitative Studie erfasst Wahrnehmungen, Handlungsorientierungen und Netzwerkstrukturen städtischer Akteure. Jeweils etwa 1.000 Fragebögen wurden in Deutschland und Frankreich an wichtige Akteure in den zwanzig größten Städten versandt. Anders als gängige Bevölkerungsumfragen wendet sich der Fragebogen an ein breites Spektrum von Akteuren in Politik und öffentlicher Verwaltung sowie der Zivilgesellschaft. Wirtschaft, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Repräsentanten einzelner Gruppen der Bevölkerung (Migranten und Migrantinnen, Senioren, Jugend usw.) gehören dazu.
Wichtige Teilaspekte des Gesamtprojekts werden in vertiefenden Studien aufgegriffen. Dazu gehören zum Beispiel Untersuchungen zur Präsenz von Repräsentanten von Minderheiten in den Governance-Netzwerken ausgewählter französischer und deutscher Städte. Hier werden Methoden der sozialen Netzwerkanalyse angewandt. Interessant ist dabei auch der Vergleich institutioneller Strukturen (Gremien, Ausschüsse, Räte usw.), in denen deutsche beziehungsweise französische Städte Fragen um Vielfalt, Einwanderung und Nichtdiskriminierung bearbeiten. Zum Beispiel gibt es in Rennes ebenso wie in Mannheim unterschiedliche beratende Gremien: den Ausschuss „Comité consultatif laïcité“ in Rennes und den „Migrationsbeirat“ in Mannheim. Daneben gibt es Gremien, die sich der Vielfalt in einem breiteren Sinne widmen: „Rennes au Pluriel“ und das „Mannheimer Bündnis für ein Zusammenleben in Vielfalt“. Werden hier jeweils ähnliche Dinge diskutiert? Wer darf mitreden? Welche Entscheidungen fallen und durch wen? Solche Fragen sollen die qualitativen Studien klären.
Erste Analysen des Datenmaterials zeigen, dass städtische Akteure in Deutschland mehrheitlich annehmen, dass eine Diversifizierung der Bevölkerung stattgefunden hat. Darüber hinaus wird Vielfalt ganz überwiegend als positiv für die eigene Stadt eingeschätzt. Zu den als positiv bewerteten Effekten gehören wirtschaftliche Impulse ebenso wie eine größere Toleranz und Offenheit der Stadt. Im Vergleich der zwanzig Städte ähneln sich die Einschätzungen, sie spiegeln also eine in Deutschland dominierende Bewertung von Vielfalt wider. Weniger Übereinstimmung gibt es über politische Maßnahmen, die die Vielfalt – zum Beispiel der Religionen – im Stadtbild sichtbar machen und faire Beschäftigungschancen auch von Minderheiten erreichen sollen. Hier steht die Auseinandersetzung mit Diversität noch am Anfang.
Literaturhinweise
Ethnic and Racial Studies 38 (7), 1120–1136 (2015)