Orte der Herrschaft

Forschungsbericht (importiert) 2003 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Autoren
Ehlers, Caspar
Abteilungen
Zusammenfassung
Die Idee für das Projekt "Orte der Herrschaft - Places of Power" am Max-Planck-Institut für Geschichte entstand bei einem Arbeitsgespräch zur mediävistischen Komparatistik an der Harvard University. Der Vergleich islamischer, byzantinischer und mittelalterlicher deutscher Herrschaftsorte zeigte die Möglichkeit, einen komparatistischen Ansatz im Rahmen des Projektes "Repertorium der deutschen Königspfalzen" zu entwickeln. Die Idee dabei ist, die spezialisierte Arbeit des Repertoriums vor den Hintergrund des europäischen Mittelalters zu stellen.

Am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen ist ein mediävistisches Forschungsvorhaben mit denjenigen Stätten im heutigen Deutschland befasst, die bis zum Ende der Stauferzeit (Mitte des 13. Jahrhunderts) Aufenthaltsorte der ostfränkisch-deutschen Herrscher gewesen sind. Eine detaillierte Beschreibung des Projektes ist im Internet verfügbar [1]. Aus diesem Unternehmen, das von Caspar Ehlers geleitet wird, ist in den vergangenen drei Jahren mit Beteiligung von Michael McCormick (Harvard University) ein internationales Projekt hervorgegangen, das sich der Genese von "Orten der Herrschaft" im weltweiten Vergleich widmen soll. Am Anfang stand ein das Vorhaben umreißender Fragenkatalog, der inzwischen zur Grundlage eines ersten europäischen Kolloquiums in Göttingen geworden ist.

Was sind die Gründe für die fortschreitende Verdichtung von Herrschaft in einem lang gestreckten Prozess bis hin zur Bildung von Zentren und Hauptstädten, wie ihn die gesamte Weltgeschichte kennt und der sich stets zu wiederholen scheint? Was sind kulturübergreifende Elemente, wo liegen spezifische Besonderheiten und Unterschiede, wo wechselseitige Beeinflussungen? Welche Rolle spielen Plätze und Landschaften, also geographische Räume für Menschen? Wie verläuft der Prozess der Verdichtung zu einem Ort der Herrschaftsausübung? Es geht in erster Linie nicht um gesellschaftliche Verdichtung um Individuen, um generationenübergreifende Herrschaft einer Familie oder eines Personenverbandes, sondern vor allem um die greifbare Konzentration von Macht am selben Ort über längere Zeiträume hinweg. Das gesellschaftliche Selbstverständnis von führenden wie regierten Gruppen spiegelt sich vermutlich gleichermaßen in einer topographischen Verdeutlichung von Hierarchie wie in einer personalen. Drei Begriffe dürften dabei im Mittelpunkt stehen: "Herrschaft" als Ausformung der Macht sowie "Integration" und "Stabilität", denn dauerhafte Herrschaft ist ohne die Einbindung von Menschen und Räumen nicht denkbar.

Von der Macht zur Herrschaft: Begriffsdefinitionen

Zunächst bezeichnet Macht eine soziale Beziehung und ist der Überbegriff für andere Kategorien der Macht wie Herrschaft, Gewalt, Zwang oder Autorität. Macht benötigt per definitionem Wirkungsfelder, wie etwa die Wirtschaft oder die Kirche, sowie Wirkungsebenen - zuerst die Gesellschaft an sich, denn "Macht kann man nicht für sich allein besitzen, Macht hat man nur in Bezug auf andere" [2]. Für Max Weber bedeutete Macht "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht" [3]. Erst die Verfestigung lässt aus Macht Herrschaft werden. Daher ist es angebracht, den Begriff der Macht als methodischen Terminus nicht unter dem heutigen Blickwinkel zu verwenden, der Macht und vor allem Gewalt als eng umgrenzte Begriffe eher abwertend im Vergleich zu anderen Modellen menschlicher Interaktionen versteht. Vielmehr sollte Macht als vorinstitutionalisierte Phase von Herrschaftsstrukturen verstanden werden. Dabei wird vorausgesetzt, dass Macht im Sinne einer Einflussnahme zunächst ethisch neutral ist.

Max Weber sonderte "Herrschaft" scharf von den Chancen ab, Macht oder Einfluss auf andere Menschen auszuüben, wenn er die "Chance" der Herrschaft darin sah, dass von einer bestimmten Gruppe von Menschen Gehorsam zu erlangen sei. Webers Definition setzt die Institutionalisierung von Macht voraus, was den Weg von Macht zu Herrschaft meint. Dieser Weg vollzieht sich nach Heinrich Popitz [4] in fünf Stufen: von der sporadischen Macht eines Einzelnen über normierende Macht zu, drittens und für die Fragestellung zentral, der Verortung von Macht, welche sich nunmehr zu Herrschaft zu verdichten beginnt, weiter zum Positionsgefüge der Herrschaft und schließlich, fünftens, zur staatlichen Herrschaft. Neben der Institutionalisierung, deren Synonym "Verfestigung" sei, sieht Popitz die Integration als einen wesentlichen Faktor der Umwandlung von Macht in Herrschaft: Integration sei nach Entpersonalisierung und Formalisierung das "dritte Kennzeichen der fortschreitenden Institutionalisierung von Macht". Alle drei zusammengenommen bedeuten schließlich eine "Erhöhung der Stabilität".

Herrschaft dürfte der am wenigsten umstrittene Begriff in der Terminologie des Projekts sein, wenn man dessen Grundbedeutung voraussetzt: die institutionalisierte, legalisierte, auf Integration und Formalisierung beruhende, in einigen Bereichen weitestgehend transpersonalisierte Form der Machtausübung. Schwerer zu fassen ist der Begriff der Integration. Eine Annäherung sei mittels Überlegungen von Rudolf Smend [5] aus dem Jahr 1928 versucht. Diese wurden vor dem Hintergrund der Weimarer Republik entwickelt und sind deshalb im aktuellen Verfassungsrecht nicht unumstritten. Doch wurden sie in jüngerer Zeit als Gegenstand rechtshistorischer Forschungen wieder aufgegriffen.

Smend entwickelte 1928 drei Integrationstypen, ohne alle (verfassungsrechtlichen) Bereiche der Staatslehre erfassen zu wollen. Als ersten nennt er die persönliche Integration, deren Besonderheit in der Form der "monarchischen Integration" es sei, dass "der legitime Monarch vor allem den geschichtlichen Bestand staatlicher Gemeinschaftswerte" symbolisiere. Beim zweiten Typus, der funktionalen Integration, begründen bestimmte Werte die Herrschaft, nämlich "irrationale, die ihr Legitimität geben", und "rationale, die sie vor allem als Verwaltung rechtfertigen".

Der dritte Typ, die sachliche Integration, ist von allen der problematischste, wie Smend selbst einräumte, weil er sich vor allem auf Symbole und Raum als Integrationsfaktoren bezieht. Smend argumentierte, dass die Fülle des staatlichen Gehalts vom Einzelnen nicht mehr fassbar sei, weswegen sie gleichsam zusammengedrängt repräsentiert werden müsse. Dies geschehe durch Symbole sowie "durch repräsentative Vorgänge". So sei schließlich die Integrationswirkung des Staates intensiv, nicht extensiv erlebbar. Von hier führt Smend seine Argumentation weiter zu den sachlichen und teleologischen Gehalten des Staates, was hier beiseite gelassen werden kann, um sich der "Geschichte" und dem "Staatsgebiet" als den verbleibenden "zwei Probleme[n]" zuzuwenden. Geschichte sei einer der wirkmächtigsten Faktoren staatlicher Integrationsfähigkeit, da sie das Fließende und nicht das Statische verdeutliche. Noch wichtiger sei nur das Staatsgebiet, durch das "der Staat seine wesentlichste Konkretisierung erfährt", so dass es "an erster Stelle unter den sachlichen Integrationsfaktoren" stehe. Zeit und Raum stellen nach Smend demnach zwei der wichtigsten Größen bei der sachlichen Integration dar.

Ohne die Relevanz der Integrationslehre von Rudolf Smend für die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts oder die gegenwärtige Staatsrechtslehre würdigen zu wollen [6], können sich Überlegungen zu Integrationsprozessen des früheren Mittelalters - also einer nach neuerem Verständnis "staatslosen" Zeit - von ihr anregen lassen, denn sowohl Smends methodische Dreiteilung als auch die jeweiligen Inhalte der Integrationsmodelle sind auf die anhand der Quellen zu ermittelnden Abläufe anwendbar. Institutionalisierte Macht also ist Herrschaft und diese bedarf der integrierenden Rückbindung an Räume, die sich schließlich an Plätzen verdichtet: den "Orten der Herrschaft".

Stabilisierung und Merkmale von Herrschaft

Von besonderem Interesse sind schließlich die Methoden, Stabilisierung in einem Raum zu erreichen, sowie die Indikatoren für diesen Prozess. Wie Integration ist Stabilisierung kein momentanes oder eng befristetes Ereignis, sondern ein im Fluss befindlicher, drängender und vermutlich nie endender Vorgang. Dessen Ziel, die Stabilität, ist die Voraussetzung für institutionelle, wirtschaftliche und soziale Weiterentwicklung im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung. So erhält der Begriff "Stabilität" bei Niklas Luhmann [7] im Zusammenhang mit "Bestandserhaltung" eine dynamische Komponente, und es besteht überhaupt ein enger Zusammenhang zwischen Stabilität und Zeit.

Eine integrierende Herrschaftsfunktion und eine gewisse Stabilität müssen also gegeben sein, damit Orte der Herrschaft sich bilden können. Unter diesen Rahmenbedingungen bilden sich Formen aus, die man untersuchen und vielleicht sogar als Gradmesser für Orte der Herrschaft verwenden kann [8]. Herrschaft aber vollzieht sich nicht nur auf einer Ebene. Daher ist zu fragen, ob es einen hierarchischen Unterschied zwischen "erstrangigen" Hauptstädten (im Sinne von hegemonialen Stätten) und "nachgeordneten" Zentren gibt. Die Adjektive sind als eine strukturelle Rangfolge zu verstehen: Werden imperiale Hauptorte von königlichen oder "provinziellen" Stätten der Herrschaftsausübung imitiert? Übrigens bietet sich das Scheitern als Mittel der Erkenntnis an: Misslungene Versuche, Zentralorte zu begründen, können Hinweise für erfolgreichere Anläufe liefern.

Gibt es besondere Funktionen von Orten der Herrschaft und Einflüsse von außen auf solche Orte? Wie beispielsweise gestaltet sich die oft zitierte Dichotomie von "Zentrum und Peripherie", wenn ein zentraler Herrschaftsort verlegt wird oder wenn er in einer bislang abseits gelegenen Region neu eingerichtet wird? Und weiter: Wie werden Zentralorte mit den Mitteln der Literatur, der bildenden Kunst oder der Architektur dargestellt? Wo arbeitet die Regierung: in privaten oder öffentlichen Gebäuden? Welche Rolle spielen Bauwerke für die Sicherheit und für die Inszenierung der Herrschaft? Wo liegen die Gebäude: in den Städten oder von diesen entfernt? In der Nähe von anderen Zentralorten, etwa religiös bedeutsamen Stätten? Haben Paläste zugleich eine Funktion als Archive, als literarische Zentren? Sind sie der Kern der städtischen Entwicklung und/oder einer merkantilen, oder folgen sie einer solchen Entwicklung? Welche Bedeutung haben die Aufgaben eines Zentralortes, die außerhalb der eigentlichen Regierungsfunktion liegen? Hier wäre an Bestattungsplätze, Denkmäler und andere Erinnerungsorte im engeren Sinn zu denken.

Unter solchen oder ähnlichen Fragestellungen sind Zentren der Religionen, des Wissens oder der Wirtschaft zu betrachten. Erst die Feinbeschreibung eines Zentralortes wird den vergleichenden Zugang ermöglichen, denn der Blick aus der Ferne dürfte nicht immer genügen. So wäre es erwünscht, wenn sich neben den phänomenologischen Fragen auch Funktionsanalysen anstellen ließen, die den Vergleich von verschiedenen Orten der Herrschaft über große Zeiträume hinweg und kulturübergreifend ermöglichen. In jedem Einzelfall muss man jedoch die Chancen und Risiken eines vergleichenden Ansatzes historischer Forschung beurteilen. Schon Marc Bloch [9] warf die Frage nach dem auf, was möglich ist, und dem, was in der historischen Komparatistik nicht sinnvoll erscheint. Die Methode des Vergleichs ist Bloch zufolge äußerst fruchtbar, doch kommt sie nicht über das Allgemeine hinaus; sie kann nicht zur Bestimmung der Details dienen. Wie detailliert die Studien zu den Orten der Herrschaft werden sollen, muss gegenwärtig noch offen bleiben. Doch hat uns ein erstes Kolloquium im Juni 2004 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen mit zwanzig Referenten aus sieben Nationen einen großen Schritt weitergebracht auf dem Weg zu einem internationalen und komparatistischen Forschungsansatz, der auch von Interesse sein dürfte, wenn gefragt wird, welche Konsequenzen für die Gegenwart einer solchen Fragestellung vor dem Hintergrund der "Globalisierung" im dritten Jahrtausend verborgen liegen.

Literatur

[2] Peter Imbusch: Macht und Herrschaft in der Diskussion. In: Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien. (Hg.) Peter Imbusch. Opladen 1998, 9-26.

[3] Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen, 5. Aufl. 1972.

[4] Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Tübingen 1986.

[5] Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht. Wieder abgedruckt in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Rudolf Smend. Berlin, 3. Aufl. 1994, 119-276.

[6] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel. In: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. (Hg.) Ernst-Wolfgang Böckenförde. Frankfurt a.M., 2. Aufl. 2000, 141-182. Vgl. das im September 2002 abgeschlossene Forschungsprojekt von Max-Emanuel Geis: "Staatliche Integration und Desintegration durch Grundrechtsinterpretation" (Norm und Symbol: Sonderforschungsbereich 485 an der Universität Konstanz, Teilprojekt B7).

[7] Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1987, 70-91.

[8] Caspar Ehlers, (Hg.): Orte der Herrschaft - Mittelalterliche Königspfalzen. Göttingen 2002.

[9] Marc Bloch: Les rois thaumaturges. Etude sur le caractére surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angelterre. Paris 1961 [1924], 53.

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