Interreligiöse Begegnungen in der Metropole. Am Beispiel von jüdisch-muslimischen Beziehungen in Frankfurt am Main

by Arndt Emmerich

February 14, 2024

This blog  was originally published in December 2023 in Forum fuer Wohnen und Stadtentwicklung.


Das wissenschaftliche Interesse an jüdisch-muslimischen Begegnungen auf kommunaler Ebene hat in den letzten 20 Jahren stetig zugenommen. Zu den Gründen hierfür zählen die polarisierten Debatten rund um den Israel-Palästina-Konflikt und die Angst vor dem sogenannten importierten Antisemitismus durch muslimische Geflüchtete sowie die antimuslimischen Ressentiments in Teilen der jüdischen Gemeinden. Solch aufgeladene Makronarrative übersehen jedoch häufig lokale Prozesse der religiösen Beheimatung sowie die dadurch entstehenden langfristigen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in urbanen Räumen. Becker (2019) konstatierte durch ihre Nachbarschaftsstudie in Berlin-Kreuzberg einen entstehenden „lokalen, kosmopolitischen Habitus“, der von einer neuen Generation jüdisch-muslimischer Aktivistinnen und Aktivisten und von interreligiösen Initiativen gelebt und beworben wird. Dieser noch junge „local-urban turn“ für die Erforschung jüdisch-muslimischer Begegnungen trägt zur gegenwärtigen Debatte einer postulierten postmigrantischen Gesellschaft bei, in der etablierte, kulturelle, religiöse und nationale Identitäten, Hierarchien und Ressourcen neu verhandelt werden (Foroutan 2015).

Im Rahmen des paneuropäischen Forschungsprojekts ENCOUNTERS (Muslim-Jewish Encounter, Diversity and Distance in Urban Europe: Religion, Culture and Social Model)[1] habe ich mich mit diesen komplexen, postmigrantischen Aushandlungsprozessen auf kommunaler Ebene in Frankfurt am Main beschäftigt. Die Mainmetropole ist eine der vielfältigsten Städte Deutschlands mit mehr als 80.000 Muslimen und über 50 Moscheen – das ist wahrscheinlich der höchste Prozentsatz in Deutschland, proportional zur vergleichsweise kleinen Stadtbevölkerung von 750.000 Einwohnern.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war Frankfurt eines der weltweit führenden Zentren für jüdische Kultur und Theologie. Zwischen 6400 und 7000 Juden[2] leben hier heute. Die Stadt ist stark von jüdischen Institutionen und Politikern – über Parteigrenzen hinweg – geprägt. Zwischen 2021 und 2023 untersuchte ich verschiedene Arten von jüdisch-muslimischen Begegnungen durch:

  • ethnografische Feldforschung im Frankfurter Bahnhofsviertel, das einen hohen muslimischen und kleinen, aber signifikanten jüdischen Bevölkerungsanteil aufweist,
  • eine Analyse rund um jüdisch-muslimische Themenfelder im Bereich Kultur und Gastronomie,
  • eine Untersuchung von interreligiösen Dialogformarten, einschließlich des Frankfurter Rates der Religionen.

Jüdisch-muslimische Begegnungen im Frankfurter Bahnhofsviertel

In den 1950er- und 1960er-Jahren wagten jüdische Displaced Persons (DPs) aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern im Frankfurter Bahnhofsviertel einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuanfang. Zeitzeugen berichteten, dass „jeder zweite Laden jüdisch war“ und in Geschäften wie auf der Straße noch Jiddisch gesprochen wurde (Freimüller 2020). Der im Bahnhofsviertel aufgewachsene Schriftsteller Michel Bergmann schrieb in seinem 2011 erschienenen autobiografischen Roman „Machloikes“ im Detail über das dortige jiddische Leben. Das Bahnhofsviertel wurde bald durch den Zuzug muslimischer Arbeitsmigranten seit den siebziger Jahren geprägt, die durch stetige Investitionen zur Aufwertung des Viertels beitrugen. Heute gibt es in und um die Münchener Straße eine überwiegend muslimisch geprägte ethnische Ökonomie mit Geschäften, Restaurants und Moscheen. In der gleichen
Straße befand sich bis vor Kurzen noch eine Bäckerei, die koscheres Brot verkaufte, einige jüdische Restaurants und Bars – sowie das Jüdische Museum im Rothschild-Palais gleich um die Ecke.

In meiner ethnografisch angelegten Studie, bestehend aus informellen Rundgängen und aus  Aufzeichnungen mehrerer jüdischer und muslimischer Lebensgeschichten, begann ich alsbald, bestimmte konviviale Muster zu erkennen. Im Kontext der sich überschneidenden Migrationsgeschichten und der langjährigen kulturellen und ökonomischen Koexistenz von Juden und Muslimen konnte meine Forschung verschiedene Beispiele von pragmatischen Kooperationen, kreativen Partnerschaften sowie gesellschaftlichen Ambivalenzen und Spannungen ans Licht bringen. Als Beispiele seien genannt: das gemeinsame Erlernen von Jiddisch und Türkisch, gemeinsames Essen, Einladungen zu Hochzeiten, gegenseitige Arbeits- und Wirtschaftsmediation sowie der gemeinsame Schutz von Neuankömmlingen.

Kunst-, Gastronomie- und Kultursektor

In den letzten 20 Jahren hat das Frankfurter Bahnhofsviertel einen enormen Reputations- und Wirtschaftsaufschwung erlebt. Aufgrund der innovativen Kultur-, Gastro- und Barszene sowie der Arbeit von kreativen Marketingagenturen, von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Kunstgalerien bezeichnete die New York Times das Viertel sogar als „Soho von Frankfurt“. In dieser Gentrifizierungsphase wurde die anhaltende Marginalisierung und Devianz nicht ausschließlich als problematisch angesehen, sondern als spezifisches Merkmal von Authentizität und Subkultur, die effektiv vermarktet werden kann. Die diversen Gruppen und Lebenswelten, so Benkel (2010, S. 77) „kommen dennoch miteinander aus, weil sich Interessen überlagern und damit überlagerungsfreie Koexistenzen möglich machen […]. Selbst scheinbar berührungslose Felder wie die Moscheen oder Bankhäuser und die Drogenszene sind in das Gesamtmosaik Bahnhofsviertel eingebunden und schon dadurch in einem heterotopen Raum ineinander verkettet“.

Bei meiner Recherche interessierte ich mich besonders dafür, wie jüdisch-muslimische Themen und Geschichten für Stadtmarketing, kommerzielle Aktivitäten und Kulturpolitik nutzbar gemacht wurden. Dabei lag meine Aufmerksamkeit auf der jungen Generation von jüdischen und muslimischen Unternehmern und Influencern, die die schöpferische Energie des Bahnhofsviertels nutzten, um innovative Produkte, kulturelle Initiativen und inklusive Orte zu erschaffen, „in denen sich Menschen begegnen“ und „sich als normal fühlen können“. Im Gespräch mit jüdischen Unternehmern im Bahnhofsviertel lag der Schwerpunkt darauf, einen gemeinschaftlichen Raum zu schaffen, der als interkulturell und interreligiös definiert und von ihrem jüdisch-kulturellen Hintergrund geprägt ist. Mit anderen Worten: Es ist ein moderner und inklusiver jüdischer Raum in einem superdiversen Stadtteil. Solch eine Bestrebung ist auch Ausdruck von Autonomie gegenüber dem für sie „zu isolierenden“ und „organisierten“ jüdischen Leben in Frankfurt sowie gegenüber den Projektionen der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Juden und andere Minderheiten in Deutschland.

Der Auftakt der verschiedenen jüdisch-muslimischen Kulturkooperationen ist eng mit der aufstrebenden Hip-Hop-Szene mit Rappern, wie Moses Pelham, Hassan Annouri oder Azad Azadpour, der 1980er Jahre verbunden. Diese Künstlerinnen und Künstler betonten die Bedeutung des Bahnhofsviertels als harten, aber inklusiven migrantischen Raum und machten in ihren Texten schon früh auf gemeinsame Diskriminierungserfahrungen sowie Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in den 1990er Jahren aufmerksam. Dieses Narrativ des urbanen Miteinanders ohne soziale Grenzen ist jedoch ein fragiles Konstrukt, wie das folgende Beispiel deutlich macht: Obwohl sich ein jüdisch geführtes  Gastrounternehmen direkt neben einer Moschee befand, gab es wenig Austausch zwischen den Inhabern, dem Imam und den Moscheebesuchern. „Die Unterschiede sind vielleicht doch zu groß“, reflektiere einer der Inhaber, bevor er klarstellte: „Es geht nicht um Muslime und Juden, sondern um säkulare und religiöse Differenzen und darum, wie wir die Welt sehen.“ Die langjährigen jüdischen und muslimischen Begegnungen sind deshalb auch immer eingebettet in nachbarschaftliche Prozesse, die sich manchmal in innovativen, wirren oder widersprüchlichen Koalitionen, Netzwerken und Inhalten manifestieren und für Außenstehende nicht immer fassbar sind.

Interreligiöser Dialog

Letztlich versucht meine Forschung, einen Beitrag zur akademischen Debatte über die Rolle von interreligiösen Dialogformaten für die Kommunalpolitik zu leisten, die bisher jüdisch-muslimische Beziehungen leider ausgeklammert hat (Nagel/Peretz 2022). Interreligiöse Gruppen, Initiativen und Bildungsprojekte werden innerhalb von Frankfurts Kommunalpolitik als wichtige Beiträge zum Gemeinwohl angesehen, um zusammen mit politischen Entscheidungsträgern zu kooperieren, sozialen Zusammenhalt zu schaffen und Spannungen zwischen religiösen Gruppen zu deeskalieren.

Obwohl solche Initiativen mit zahlreichen Integrationspreisen ausgezeichnet wurden, bezweifeln Kritiker ihre Relevanz außerhalb von privilegierten Räumen und Stadtmarketing. In meiner Recherche zu formellen Dialoggruppen auf kommunaler Ebene habe ich Frankfurts älteste Vermittlungsplattform, den Rat der Religionen, analysiert. Anhand dieser Fallstudie habe ich untersucht, wie jüdisch-muslimische Beziehungen wahrgenommen und verhandelt wurden. Eine weitere interreligiöse Initiative, der prominente Interreligiöse Chor Frankfurt, wurde ebenfalls in die Untersuchung miteinbezogen.

Weil diese Plattformen ausschließlich aus religiösen Akteurinnen und Akteuren bestehen, habe ich parallele Initiativen, wie das Hessische Forum für Religion und Gesellschaft, in meine Analyse aufgenommen. Das 2012 gegründet Forum hatte von Anfang an das Ziel, stärker auf die politischen Prozesse einzuwirken und mit zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Akteure, Journalisten sowie LGBT-plus-Aktivisten zusammenzuarbeiten. Aufgrund der Dominanz des religiösen Mainstreams in etablierten Dialoggruppen haben sich weitere progressive Netzwerke gebildet, wie etwa ein Bündnis zwischen dem liberalen Flügel der jüdischen Gemeinde und einer muslimischen LGBT-plus-Gruppe, mit dem Ziel, einen inklusiven interreligiösen Rat aufzubauen. Durch die Erforschung verschiedener, organisierter Begegnungen konnte ich aufzeigen, wie Krisenmomente zu neuen Managementstrategien und Prozessen der Institutionalisierung führen, wie sich interne Angelegenheiten innerhalb muslimischer, jüdischer und anderer Glaubensgemeinschaften auswirken und sich kommunale, interreligiöse Allianzen stetig im Wandel befinden – wie zum Beispiel durch transnationale Ereignisse im Nahen Osten.  Abschließend ist festzuhalten, dass wissenschaftliche Untersuchungen im lokalen Kontext der aktuellen Polarisierung um jüdisch-muslimische Themen auf nationaler und internationaler Ebene entgegenwirken können und sie damit mit anderen kommunalen Prozessen und Migrationsgeschichten vergleichbar machen.

Quellen:

Becker, Elisabeth (2019): Commitment without Borders: Jewish-Muslim Relations and the Making of a Cosmopolitan Habitus in Berlin. In: Volume 10: Interreligious Dialogue, Brill, S. 201–218.

Benkel, Thorsten (2010): Das Frankfurter Bahnhofsviertel. Springer.

Bergmann, Michel (2011): Machloikes. Arche Literatur Verlag.

Foroutan, Naika (2015): Unity in Diversity: Integration in a Post-Migrant Society, Policy Brief. Bundeszentrale für politische Bildung.

Freimüller, Tobias (2020). Frankfurt und die Juden: Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945–1990. Wallstein Verlag.

Nagel, Alexander-Kenneth/Peretz, Dekel (2022): Precarious Companionship: Discourses of Adversity and Commonality in Jewish-Muslim Dialogue Initiatives in Germany. In: Jews and Muslims in Europe, Brill, S. 99–120.

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[1] https://www.mmg.mpg.de/640536/encounters-ora-joint-research-project

[2] Diese Schätzungen zu den jüdischen und muslimischen Gemeindezahlen vor Ort stammen vom Frankfurter Rat der Religionen: www.rat-der-religionen.de.

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